442
Die Hegeische Linke.
sich noch nicht philosophierend als Einheit des Unendlichen und Endlichen weiß, sondern sich nur erst als endliches, sinnlich empirisches Bewußtsein fühlt, das Unendliche, das er in sich hat, als ein Fremdes aus sich herausstellt, als ein jenseitiges betrachtet. Diese gläubige Trennung ist durchaus unphilosophisch, die Aufgabe des Philosophen ist, alles Jenseits auf das Diesseits zurückzuführen. So ist ihm die Unsterblichkeit nicht etwas Zukünftiges, sondern die eigene Kraft des Geistes, sich über das Endliche zur Idee zu erheben. Und wie die jenseitige Fortdauer, so fällt auch der transcendente Gott hinweg. Das Absolute ist die allgemeine Welteinheit, welche das Einzelne als ihre Modi setzt und aufhebt. Gott ist das Sein' in allem Dasein, das Leben in allem Lebendigen, das Denken in allen Denkenden; er steht nicht als Einzelperson neben und über anderen Personen, sondern ist das Unendliche, das in den Menschengeistern selbst sich personifiziert und zum Bewußtsein gelangt, und zwar von Ewigkeit her: als es noch keine Erdmenschheit gab, gab es Geister auf anderen Sternen, in denen Gott sich spiegelte.
Drei Decennien später hat ■ Strauß noch einmal viel von sich reden gemacht durch sein materialistisches und atheistisches Bekenntnis „Der alte und der neue Glaube" 1872 (seit der zweiten Auflage begleitet von einem Nachwort als Vorwort), worin er den Kampf gegen den religiösen Dualismus fortsetzt. Die Frage „sind wir — die Gebildeten der Gegenwart — noch Christen?" wird verneinend beantwortet. Das Christentum ist ein Kultus der Armut, weltverachtend, arbeits- und bildungsfeindlich; wir aber haben gelernt, in Wissenschaft und Kunst, in Beichtum und Erwerb die Haupthebel der Kultur und des Fortschritts der Humanität zu achten. Das Christentum reißt dualistisch Leib und Seele, Zeit und Ewigkeit, Welt und Gott auseinander; wir aber brauchen keinen Schöpfer, denn der Prozeß des Lebens hat weder Anfang noch Ende. Die Welt ist zwar auf die höchste Vernunft, nicht aber von einer solchen angelegt. Unsere höchste Idee ist das gesetzmäßige, lebens- und vernunftvolle All und unser Gefühl gegen das Universum — das Bewußtsein der Abhängigkeit von seinen Gesetzen — übt einen nicht geringeren versittlichenden Einfluß, ist nicht minder verehrungsvoll und nicht minder verletzbar durch einen pietätlosen Pessimismus, wie dasjenige der Frommen alten Stils gegen ihren G.ott. Daher darf die Antwort auf die zweite Frage „haben wir noch Beligion?" bejahend ausfallen. Eines Kultus und einer Kirche bedarf der neue Glaube nicht. Da die trockenen Gottesdienste der freien Gemeinden nichts für Bhantasie und Gemüt bieten, njuß die Erbauung des Herzens auf anderen Wegen erreicht werden: durch Teilnahme an den Interessen der Menschheit, an dem nationalen Leben und nicht zuletzt durch ästhetische Genüsse. So kehrt der Greis in seinem letzten Buche, das in zwtj Zugaben auf unsere großen Dichter und Musiker zu reden kommt,