Ed. v. Hartmann. Die neue Kantbewegung.
459
die (Offenbarungs-, Erlösungs- und Heiligungs-)Gnade, welche den Menschen durch das Bewußtwerden seiner centralen und metaphysischen Abhängig keit von Gott über die peripherische und phänomenale Abhängigkeit von der Welt hinaushebt und von dieser befreit. Die Beligionsm etaphysik (in einem theologischen, anthropologischen und kosmologischen Abschnitt) erweist durch Induktion aus den religiösen Thatsachen die Existenz, Allmacht, Geistigkeit, Allwissenheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit des mit der moralischen Weltordnung zusammenfallenden All-Einen, ferner die Er-lösungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Menschen von Übel und Schuld, wobei eine untergöttliche, widergöttliche und Gott gemäße oder eine natürliche, böse und sittliche Sphäre des individuellen Willens unterschieden wird, und zeigt, gleichsehr die Absolutheit Gottes und die Wirklichkeit der Welt aufrechterhaltend, daß nicht sowohl der Mensch, als Gott selbst als Träger des gesamten Weltleidens das Objekt der Erlösung sei. Die Religionsethik bespricht den subjektiven und den objektiven Heilsprozeß, nämlich Reue und Besserung des Individuums und den Sinnbilder und Kunst verschmähenden kirchlichen Kultus der Zukunft.
Es ist ein von den Fachmännern nicht genügend gewürdigtes Verdienst Hartmanns, in einer der Spekulation abgeneigten Zeit seine Kraft den höchsten Broblemen der Metaphysik gewidmet zu haben und in deren Bearbeitung mit wissenschaftlichem Ernst und mit umfassender und eingehender Berücksichtigung des früher Geleisteten zu Werke gegangen zu sein. So enthält namentlich die Kritik der ethischen Standpunkte im historischen Teile der „Bhän. d. sittl. Bew." vieles Beherzigenswerte; auch verdient der metaphysische Grundgedanke, daß das Absolute als Einheit von Wille und Vernunft zu fassen sei, in seiner Allgemeinheit lebhaftere Zustimmung, als demselben zu teil geworden ist, während die Verwerfung eines unendlichen Bewußtseins mit Becht Widerspruch erfahren hat. Auf die in Kürze nicht wiederzugebenden naturphilosophischen Erörterungen über die Materie, die mechanistische und teleologische Auffassung des Lebens und seiner Entwicklung, den Instinkt, die Geschlechtsliebe u. s. w., welche sehr geschickt im Sinne des metaphysischen Prinzips verwendet werden, konnte hier nicht eingegangen werden.
III. Von der Wiedererweckung der Kantischen Philosophie bis zur Gegenwart.
Die Kantische Philosophie hat zweimal Epoche gemacht: bei ihrem Auftreten und zwei Menschenalter nach dem Tode ihres Urhebers. Die neue Kantbewegung, welche einen der hervorstechendsten Charakterzüge der Philosophie der Gegenwart bildet, hat vor nunmehr zwei Jahrzehnten ihren Anfang genommen. Denn wenn auch bereits vor 1866 einzelne